Druckvolle Beats, zerrende Gitarren
HOCHHEIM - Pünktlich zur Eröffnung des Kulturfestivals um 12 Uhr fängt es an zu regnen. Wahrscheinlich drängen sich deshalb nicht gerade die Besucher an der Einlasskontrolle auf dem Johanneshof der Familie Schreiber und es gibt noch viel Platz für die erwarteten 600 Besucher. Der Eintritt ist frei, wer möchte kann freiwillig etwas spenden.
Ab einem Beitrag von fünf Euro erhalten die Besucher ein Festivalbändchen fürs Handgelenk. Gut geschützt sitzen die Mitglieder des Blasorchesters Hochheim unter einem Pavillon und freuen sich, das Kulturfestival musikalisch eröffnen zu können. Ein Blasorchester und fünf Punk- und Rockbands, wie geht das zusammen?
„Diese Idee haben wir vom Wacken Open Air in Schleswig-Holstein übernommen“, gibt Hendrik Zwaack zu, einer der hauptverantwortlichen Organisatoren der Veranstaltung. „Das Heavy-Metal Festival wird dort traditionell von der Feuerwehrkapelle des Ortes eröffnet“.
Planung im Lockdown letztes Jahr
Gut ein Jahr haben die Vorbereitungen auf das Event gedauert, erzählt uns Hendrik Zwaack. Durch Corona konnten nicht wie sonst Veranstaltungen in der Thomas-More-Lounge im Keller in der Wilhelmstraße stattfinden. So kam das Orga-Team mit Jana Steinmetz und Carsten Dittinger auf die Idee einer Veranstaltung im Freien. Man überlegte, was es in Hochheim noch nicht gibt und wollte ein Gegenangebot zu dem bisher Vorhandenen auf die Beine stellen. So entstand die Idee eines Punk- und Rockfestivals, bei dem sich gleichzeitig gemeinnützige Organisationen dem Publikum präsentieren können. Rund 130 Bands bewarben sich online um eine Teilnahme, davon wurden rund 40 noch einmal online gecastet, bis die 5 Finalisten gefunden waren.
Alle Musiker spielen ohne Gage, nur für die Verpflegung wird gesorgt. Einnahmen werden aus dem Verkauf von Getränken generiert, auch hier arbeitet das insgesamt zwanzigköpfige Team der KJG Hochheim ehrenamtlich. Gesponsert wird die Veranstaltung auch vom KJG Diözesanverband und dem BDKJ Limburg. Mögliche Überschüsse nach der Veranstaltung sollen den beteiligten Organisationen zugutekommen. Über eine Wiederholung im nächsten Jahr denkt das Orga-Team bereits nach.
Blasmusik gegen Regenwolken
Nachdem der „gefühlte Hobby-Marktmeister“, Hendrik Zwaack, die Veranstaltung mit einem Schuss aus der Luftschlangenkanone eröffnet hat, legt das Blasorchester Hochheim unter der Leitung von Nico Leikam los. Die Melodien und Medleys, unter anderem von Udo Jürgens, sorgen direkt für gute Laune und helfen, den grauen Himmel zu vergessen. Besonders das letzte Stück „The Wellerman“, ein Seemanns-Shanty in moderner Form sorgt für fröhliche Stimmung bei den Zuhörern.
Ab 14 Uhr beginnt das reguläre Programm der fünf Bands. Jeder Auftritt dauert eine Stunde, danach sind dreißig Minuten für den Bühnenumbau eingeplant. Kraftvoll rockig beginnt „Thursday in March“ mit der Frontfrau Vanessa Trackl und ihren vier Musikern Sebastian, Tim, Henrik und Moritz. Die Pop-Punk-Band aus Rheinhessen, die nur eigene Kompositionen spielt, genießt sichtlich ihren ersten Auftritt seit 2019 vor realem Publikum. Dieses wird aufgefordert, den noch leeren Raum vor der Bühne zu füllen. Liegt es an der noch frühen Uhrzeit oder halten die Corona-Abstandsregeln Tanzwillige zurück? Ein paar Mutige trauen sich dann doch und zusammen wird die lange vermisste Live-Atmosphäre gefeiert. Mit „Hochheim, es war uns eine Ehre!“ verabschiedet sich „Thursday in March“, die noch für einen weiteren Auftritt an diesem Tag in Frankfurt gebucht sind.
Musikalisches Kontrastprogramm kommt danach von „Job Rocker“. Die vier Hobby-Musiker, die alle im Umkreis leben, haben sich über ihre Arbeit bei IKEA in Wallau kennengelernt und spielen seit zehn Jahren zusammen. Geprobt werden eigene und Cover-Songs in Nordenstadt und meist bei privaten Feiern aufgeführt. Die klassisch performten Rocksongs der Rolling Stones, Tom Pettys oder Neill Youngs finden ihre Fans bei den Ü-30/40/50 Gästen des Festivals.
Pausen für Hirn und Magen
Umbaupausen sind etwas Praktisches. Ohne etwas zu verpassen können die Besucher in Ruhe an den Infoständen ins Gespräch mit den ehrenamtlichen Mitarbeitern kommen. Christine Schreiber informiert am Stand der MEF (Mission Entwicklung und Friede) über ihre aktuelle Briefaktion zum Thema Flüchtlinge. Am Stand liegt ein vorformulierter Brief mit Forderungen zur Flüchtlingspolitik an jeden Bundestagsdirektkandidaten der vier großen Parteien aus, den man unterschreiben kann. Gegen eine Portospende wird der Versand direkt vor Ort vorgenommen. Direkt daneben steht der Stand des Hochheimer Weltladens. Das Team um Natascha Wedekind und Bernd Jung hat sich mit seinem Sortiment auf das Festival abgestimmt und vor allem Snacks für die schnelle Wiedergewinnung von Energie im Sortiment. Süß oder salzig, mit Koffein oder Guarana, aber auf jeden Fall immer fair gehandelt. Am Stand von Silja Zwaack können sich Besucher über die Arbeit der KBAN (kein Bock auf Nazis) informieren, Deutschlands größte unabhängige Jugendkampagne gegen rechts, die von vielen deutschen Musikern unterstützt wird.
Oxfam zeigt Möglichkeiten, die weltweite Armut zu verringern, zum Beispiel durch Spenden anstelle von Geschenken. Viva con Aqua aus St. Pauli engagiert sich weltweit für sauberes Trinkwasser, Sanitär und Hygieneprojekte. Aber auch die Band-Merchandising-Produkte finden sich hier, T-Shirts, Aufkleber oder CDs.
Der himmelblaue Verkaufsstand von Maalula lockt die Besucher mit orientalischem Gebäck. Heike und Sophie Weimer bieten mittlerweile nicht nur süße Backwaren, sondern auch Herzhaftes aus der Orientküche. Hergestellt werden die veganen Spezialitäten nach alten Familienrezepten aus Syrien, Persien und Marokko, die sie von Mitarbeitenden und Bekannten erhalten haben. Wem das alles zu exotisch ist, der bekommt natürlich auch die klassische Festivalverpflegung: Am „Grill 66“, 1966 von Pius Schramm in Wiesbaden gegründet, brutzelt heute Sohn Dominik Würste und Steaks auf dem Pendelgrill. Whisky-Kenner oder die, die es noch werden wollen, haben am Stand der „Hochheimer Whisky Brothers“ bei Frank Idstein und Dirk Krams die Möglichkeit, unter dreißig verschiedenen Bränden zu wählen und unter Anleitung zu schmecken.
Danach noch ein Eis der „Wickerer Eismanufaktur“ oder ein leckerer Wein-Slushie und man ist bestens für die nächsten Live-Acts gerüstet.
Sonniger Spätnachmittag lockt mehr Besucher an
Liegt es am besseren Wetter oder an der Uhrzeit? Kontinuierlich füllt sich das Festivalgelände, auch mit Familien. Die Kids lassen sich schminken, belagern die Hüpfburg oder versuchen sich am Geschicklichkeitsspiel. Aber am liebsten wird über den Platz gerast, die Luftschlangenreste aufgesammelt und auch zur Musik getanzt.
Mittlerweile steht „Scratch“ auf der Bühne, die vier jungen Männer aus dem Raum Bonn/Mönchengladbach spielen seit 2013 zusammen in verschiedenen Besetzungen. Zu hören gibt es eigene Songs aus der Rock-Metal-Richtung. „Wir haben keine besondere Zielgruppe“, meint Bandleader Pit Brümmer, „unsere Melodien sollen einfach ins Ohr gehen“.
Abgelöst werden die Jungs aus NRW von „Downhill from here“, einer Pop-Punk-Band aus Trier/Hermeskeil. Seit der Gründung 2016 rocken die vier Jungs über diverse Bühnen in Rheinland-Pfalz und im Saarland.
Zum Sonnenuntergang betritt der Top Act „Revolution Breakdown“ die Bühne. Die Musiker Stefan, Carsten, Mo und Leon waren alle eingefleischte Fans der kalifornischen Punk-Rock-Band „Green Day“ als sie im Sommer 2018 ein Zufall zusammenführte.
Es war die Geburtsstunde dieser Tribute-Band. Allen Ensembles ist an diesem Tag die große Freude am Live-Auftritt vor „realen Menschen“ anzumerken und je weiter der Tag fortschreitet, desto mutiger werden auch die Besucher und wagen sich auf die Tanzfläche vor der Bühne. Am Ende der Veranstaltung zeigt der Besucherzähler über fünfhundert Gäste an, die an diesem Tag das Festival besucht haben, und das trotz des unsicheren Wetters.
Das Veranstaltungsteam ist vollauf zufrieden. Die Chancen für eine Wiederholung im nächsten Jahr stehen nicht schlecht.
Von Edda Syborg
Freitag, 03.09.2021